Der 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck hat sich zeitlebens mit dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft auseinandergesetzt: „Auf die Frage, was hält individualisierte Gesellschaften zusammen, gibt es eine schlichte Antwort: geteilte Selbstverständlichkeiten, die so selbstverständlich sind, dass sie als solche gar nicht mehr erscheinen“. Doch was können diese Selbstverständlichkeiten sein? Bezogen auf Herkunft, Religion oder Werte leben wir in einer sehr heterogenen Gesellschaft. Unterschiede sind hier ebenso selbstverständlich, wie ein Grundkonsens darüber, dass diese Unterschiedlichkeiten, so lange sie sich innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen, zu akzeptieren sind. Und damit stellt sich die Frage, wie Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens so gestaltet werden können, dass sie den Zusammenhalt, konkret die Bereitschaft zur Einhaltung der Regeln fördern. Für diesen Prozess sind sowohl akzeptierte Verfahren, z.B. der parlamentarisch-demokratische Entscheidungsprozess, als auch eine politische Kultur von Bedeutung, die auch diejenigen zu berücksichtigen versucht, die sich nicht oder nur wenig in den vereinbarten Regeln wiederfinden können. Grundlage dieser politischen Kultur ist die offene Auseinandersetzung über unterschiedliche Interessen und Werte. Eine Auseinandersetzung, die nicht feindselig, aber eben doch auch „offen“ sein muss. Offen hinsichtlich der Artikulation eigener Bedürfnisse und offen bezogen auf die Bedürfnisse, welche die Anderen nennen. Aktuell haben wir in unserer Gesellschaft hier zwei Probleme: Zum einen die Tendenz, die offene Auseinandersetzung zu vermeiden, und zum anderen einen Hang zur Feindseligkeit gegenüber dem Andersdenkenden, insbesondere wenn sich die Unterschiede auf konfliktträchtige Themen wie Integration, Klimaschutz oder Gender beziehen. Die jüngste Shell-Jugendstudie bestätigt dies, wenn sie zum Ergebnis kommt, dass 56% der befragten Jugendlichen Angst „vor einer wachsenden Feindseligkeit zwischen Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind“ haben. Und auch Bundespräsident Walter Steinmeier forderte in seiner Weihnachtsansprache 2018: „Wir müssen wieder lernen, zu streiten, ohne Schaum vorm Mund, und lernen, unsere Unterschiede auszuhalten. Wer Streit hat, kann sich auch wieder zusammenraufen.

(…) Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!“

Dr. phil. Christian Boeser-Schnebel studierte Pädagogik, Psychologie und Politik. Nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Augsburg, der TU München, der LMU, der Katholischen Stiftungsfachhochschule Benediktbeuern und der Justus-Liebig-Universität Gießen ist er seit 2010 Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung an der Universität Augsburg. Boe-ser-Schnebel ist Leiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern und Initiator eines Argumentationstrainings, in welchem es um die grundsätzliche Dialogfähigkeit unserer Gesellschaft gerade auch bei politischen Themen geht (www.politik-wagen.de). 2010 hat er den Bayerischen Preis für gute Lehre an Universitäten erhalten. Boeser-Schnebel ist u.a. in der Weiterbildung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Programm ProfiLehre tätig.